Entwurzelung

Veröffentlicht am 23. April 2025 um 16:30

Als ich 11 Jahre alt war, begann der Jugoslawien-Krieg. Wir erfuhren davon, als die Panzer schon vor den Türen unserer Stadt standen. Bis dahin lebten wir in einer heilen Illusion, während überall im Land schon Unmut und Hass brodelten, die durch Medien und feurige Politiker-Reden geschürt wurden.

Es war genau der Beginn eines neuen Schuljahres, als meine Welt, so wie ich sie kannte und liebte, zusammenbrach und ein neues Leben sich auftat, welches sich wie ein Riss quer durch die Seele ausbreitete. Ein Riss, der entsteht, wenn man so plötzlich und unvorbereitet entwurzelt wird und mit einem Schlag alles zurücklassen muss, was einem lieb und teuer ist.

Von Bosnien und Herzegowina, über Kroatien, Slowenien und Deutschland, wohin wir geflüchtet waren, kamen wir schlussendlich nach Österreich, wo wir bleiben sollten. Zu all der Angst und dem Schmerz des Verlustes und der Entwurzelung, zum Beben und Hinterfragen der eigenen Identität kam das Unverstanden-Sein hinzu. Zunächst schien es sich auf die Sprachbarriere zu beschränken, die sich wie eine Mauer um mich herum aufbaute.

Zu diesem Zeitpunkt habe ich noch nicht geahnt, dass selbst die Sprache und all die später gesprochenen Worte nicht unbedingt zum Verstandensein führen müssen, denn als ich die Sprache schon längst gut beherrschte, blieb mein Inneres trotzdem nicht verstanden. Das Heimweh blieb für viele Jahre in mir verschlossen und floss nachts im stillen Schluchzen in Bächen von Tränen aus mir heraus. Jeden Sonnenaufgang am Morgen, jede Wolke am Himmel, jede Dunkelheit der Nacht habe ich Jahr für Jahr mit denen verglichen, die ich an der Schwelle des warmen, kleinen Hauses meiner Kindheit erlebt habe. Jeden Duft des Regens, des Schnees, der Bäume und des Grases, die Bilder des aufsteigenden Staubs von der Straße im Sommer, das Knistern des Feuers im Ofen habe ich in meinem Inneren fortleben lassen. Die wahre Schönheit des unbeschwerten Augenblicks, von welchem mich der Krieg so grob abgeschnitten hatte, war einfach „dort“ geblieben – die schönsten Erfahrungen waren wie eingemauert, unwiederholbar, nicht mehr reproduzierbar. Dort im Kind-Sein, dort wo ich von jedem Acker, jeder Wiese wusste, wem sie gehört. Und auch dort in der Sprache, den Geschichten und den Liedern der Heimat, die mich als Menschen formten.

Unverstanden fühlte ich mich auch insofern, dass jeder in dieser neuen Heimat zu glauben schien, man hätte „dort“ nichts besessen und habe nun das Glück, gut zu leben. Ich konnte und kann bis heute nur schwer erklären, dass ich nie zuvor ärmer gewesen war. Ärmer und zwar nicht nur um das Materielle, das Heimathaus, die Felder, Äcker und Gärten die gegen eine Mietwohnung im dritten Stock eines Hochhauses getauscht wurden, aus der man nicht einfach so barfuß und frei auf das Gras hinausschreiten konnte, sondern vor allem ärmer um die Nähe jener Menschen, die bis dahin eigentlich mein Leben waren. Ärmer um einen ganzen Lebenssinn und –inhalt. Ärmer um Freunde, von denen jede Spur fehlte und die der Krieg wie Laub fortgetragen hatte in ein neues Leben im Hier oder Dort.

Das schnelle Erlernen und Beherrschen der Sprache hat schrittweise Barrieren gelöst und mir neue Wege eröffnet, aber das Fremdsein in mir hat es nicht beseitigt. Ich trage es wie ein Kleid, das nicht ausgezogen werden kann. Durch die Sprache fließt es heraus, aber die Quelle dieses Fremdseins versiegt und versiegt nicht. Die deutsche Sprache ist zu meiner zweiten Muttersprache geworden, aber noch immer fühlt sie sich in meinem Hals unnatürlich an, noch immer fließt sie nicht mit dieser endlosen Leichtigkeit von den Lippen, obwohl selbst meine „ausländischen“ Gedanken in deutsche Sprache gekleidet zu sein scheinen, in welcher sie durch meinen Kopf zirkulieren.

Nach langen Jahren des „Sich-Suchens“ habe ich mich zum Teil gefunden und während dieses „Sich-Halbwegs-Findens“ habe ich den Vater meines Kindes kennengelernt. In langen Gesprächen haben wir unbewusst wahrgenommen, dass uns das verbindet, was uns von uns selbst entzweit hat – unsere Entwurzelung. Er wurde als Kind russlanddeutscher Eltern in Sibirien geboren, die später in ihre Ursprungsheimat Deutschland zurückgezogen sind. In Russland waren sie trotz mehrerer Generationen und verstrichener Jahrhunderte Fremde geblieben, die sich nicht gerne mit „anderen“ mischen… Ein Faschist wurde man dort genannt, obwohl man den Faschismus weder miterlebt hatte noch wirklich kannte. Nach Deutschland „zurückgekommen“ (bzw. das erste Mal Deutschland erlebt), war man „der Russe“, dessen Eltern ein veraltetes Deutsch – vollgespickt mit russischen Worten – sprachen, das ungebildet oder zumindest sehr eigenartig klang. Man schwärmt noch immer von russischen Speisen und träumt mit Tränen in den Augen von der Weite und den Schönheiten Sibiriens, erinnert sich aber im selben Augenblick an Leid und Schrecken und ist dankbar für das „Deitsche“ Heimatland, das einen nie richtig als Heimat angenommen hat. Ihr Inneres ist genauso gefangen wie meines in der Schönheit einer trotzdem irgendwie schweren und schrecklichen Vergangenheit, die sich nicht reproduzieren lässt.

 

Manchmal scheint diese verschwundene Schönheit zwar durch das Gesprochene und die Erinnerung eine Auferstehung zu erleben, aber sobald die Sprache verebbt, verschwindet sie wieder im Nebel der Zeit. Was bleibt, ist ein sentimentales, wehleidiges, nostalgisches Gebunden-Sein an die slawische Seele und eine neue Realität gekleidet in deutscher Sprache, in der man sich nie wirklich daheim fühlt.

 

 

(Geschrieben im Februar 2023)

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