Auf der Suche nach Glück

Veröffentlicht am 3. November 2023 um 23:57

Seit der Geburt meiner Tochter hat sich mein Leben sehr gewandelt. Es wäre endgültig die Zeit gekommen, glücklich zu sein, wenn ich bloß noch wüsste, wie das eigentlich geht. Es wäre an der Zeit, mich am Leben zu erfreuen und aufzublühen. Aber tief in meinem Inneren gibt es etwas, das an der Trauer festhält, die mich immer wieder mit ihrer düsteren Macht überrollt. Etwas, das mir einzuflüstern versucht, dass das Glück niemals von Dauer sein kann. Dass es vergänglich ist und dass über ihm dunkle Wolken oder irgendeine Art „Keule“ hängen könnte, die im schönsten Augenblick vom Himmel herunterfällt, um alles zu zermalmen und mich zurückzuwerfen – in einen tiefen Abgrund ohne Fenster und ohne Lichtblick. Wozu also glücklich sein? Es könnte alles nur schlimmer machen… Ich versuche mich zu erinnern, wann ich die Landschaft meiner Seele mit diesen dunklen Farben der Hoffnungslosigkeit ausgemalt habe, aber es scheint, als hätte sich dieser Vorgang meinem Bewusstsein komplett entzogen.

Ist dies in den Jahren meiner Kindheit geschehen? Damals in dem Häuschen unter den zwei großen, grünen Walnussbäumen, in welchem ich zwar wohlbehütet, aber immer unter der Last der Krankheiten von Menschen, die ich liebte und die mich liebten, aufgewachsen bin. So lange ich nämlich zurückdenken kann, höre ich die schweren, pfeifenden Atemzüge meiner Oma und sehe die verwelkten, dürren Hände meiner Tante, deren Erkrankung ihr über Jahrzehnte das Leben Stück für Stück geraubt hatte, um ihr viel zu früh die letzte Kraft aus den Adern zu saugen. Sie war in die Traurigkeit eines nie verkrafteten Verlustes versunken und ist nie wieder aus ihr aufgetaucht. Wir verabschiedeten sie und wussten damals nicht, ob wir mehr um ihren viel zu frühen Tod oder noch mehr um ihr nie gelebtes Leben trauern sollten.

Ob diese Traurigkeit auf mich übergegangen war – wie eine ansteckende Krankheit, um über die Jahre mein steter Begleiter zu werden? Oder ob sie mich in den Kriegsjahren eingeholt hat, die für immer den Verlust einer Heimat bedeuteten, die es nie wieder in der Form geben würde, in welcher sie in meinem Inneren fortlebt? Der Zeitpunkt, an dem dieser tiefliegende Charakterzug erwachte und zu einem Teil von mir wurde, ist schwer auszumachen. Vielleicht liegt sein Ursprung auch im langen Prozess des immerwährenden Heimwehs und der Tatsache, dass man durch die erzwungene Entwurzelung nirgendwo eine Heimat gefunden hat – weder hier noch dort?

Schon immer war ich ein melancholisches Kind, das am liebsten in Nostalgie schwelgte – so, als hätte es schon ein hundertjähriges Leben auf seinem Rücken geschleppt, auf das es zurückblicken konnte. Damals schon, in meinem kleinen, schönen Heimatdorf, wo Regen und Schnee einen ganz eigenen Geruch der Frische tragen und der Staub auf den Straßen meiner Kindheit in der Hitze des Sommers vom Wind in die Ferne getragen wird.

Mein Vater wohnte in einer Großstadt und konnte sich wegen seiner Krankheit nicht um mich kümmern. Seine Liebe mir gegenüber war unermesslich, aber in den Köpfen der Menschen, die mich umgaben, existierte er schlicht und einfach nicht. Diese Tatsache machte mich in den Augen engstirniger Leute, von denen es zu dieser Zeit und an diesem Ort viele gab, zu einem kleinen „Bastard“, wie man manchmal in kleinen Dörfern und Gemeinschaften in einer Minute der Böswilligkeit Kinder nennt, die aus unehelichen Beziehungen entstanden waren.

Dies ist nur ein ganz kleines, bedeutungsloses Wort und dennoch ein sehr mächtiges und prägendes, das eine tiefe Kränkung und Beleidigung in sich birgt, weil es dem Menschen brandmarkt und ihm das Recht zu Existieren zu entziehen versucht. Es brennt sich so tief in die Seele ein und macht den Betroffenen - trotz der erlebten Liebe in der Familie - von seiner Kindheit an zu jemanden Minderwertigen, von der Gesellschaft irgendwie Verstoßenen und Abgewerteten, der sich ständig wehren, verteidigen und behaupten muss. Es schneidet ihn in gewisser Weise vom Zufluss der Liebe ab, mit der der Schöpfer ihn geschaffen hat und mit dem Verlust dieser Verbindung weiß er nicht mehr, wer er eigentlich ist und wohin genau seine Füße gehen sollten. Ein solches Kind braucht –im Gegensatz zu anderen Kindern – Tag für Tag eine Legitimation für seine nicht sein sollende Existenz.

Meine Mutter schuf für uns beide diese so dringend benötigte Legitimation, indem sie all ihre Kraft und Liebe darin investierte, mich zu einem Kind mit einem übertriebenen Verantwortungsbewusstsein und einer übertriebenen Rücksicht zu erziehen, das seiner Umgebung aufgrund seines Liebseins einfach nur gefallen musste. Ob dies wirklich mein Wesen war und ist, kann keiner mehr sagen, weil diese Eigenschaften schon so sehr mit meiner Seele verwoben und mit ihr verwachsen sind, dass die Spur zum eigentlichen Ursprung meiner selbst schon längst verwischt wurde. Selbst der Rebell, der immer wieder in mir auflodert und aufschreit, wäre nicht ein Teil von mir geworden, wenn ich mich nicht in einem ständigen Kampf mit der Welt, die mich umgab, befunden hätte.

Wer bin ich also? Und wer werde ich sein, wenn ich es schaffe, diesem Gefängnis zu entfliehen, dessen Gitterstäbe aus vielen Begründungen und Rechtfertigungen bestehen, warum es mich überhaupt geben durfte und musste? Was wird sein, wenn ich mich aus dem Würgegriff all dieser mir zusätzlich anerzogenen guten Eigenschaften befreie, die meine Persönlichkeit manchmal zu ersticken drohen? Wer werde ich sein, wenn ich sie von mir abwerfe und mich von einer Sich-Suchenden in eine Sich-Findende verwandle? Was werde ich finden und wird es mir überhaupt gefallen oder werde ich mir wünschen, nie gesucht zu haben?

In fast jeder Rolle, die mir das Leben zugewiesen hat, und fast jeder zwischenmenschlichen Beziehung verspüre ich Verlustangst. Tief in mir wehrt sich alles gegen die verlustbehaftete und vom Schmerz durchdrungene Vergänglichkeit.

Aber auf meiner zweifelbehafteten Suche nach sich selbst ist mir das Glück in Form eines kleinen Menschen begegnet, der mich so unabdingbar liebt, dessen kleine Händchen mich umarmen, der dieses Ich in mir sieht, zu welchem ich mich noch immer durchkämpfe. Und irgendwie lodert in mir eine kleine Flamme der Hoffnung, mich eines Tages durch diese Augen tatsächlich selbst zu erkennen und zu finden und zur Leichtlebigkeit zurückzufinden, an die ich mich kaum noch erinnere.

 

(Geschrieben am 03.11.2023)

 

 

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